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Nathan Bernfeld (1872-1950)
Ellen Bernfeld geb. Hanisch (1898-1955)

Biographie

Nathan Bernfeld erblickt am 17. Mai 1872 das Licht der Welt. Sein Heimatort, wo er mit seinen Eltern Jakob und Katharina sowie mindestens sechs Geschwistern lebt, ist Svitavka, ein kleines Städtchen bei Brünn in Mähren (heute Tschechien). Nathan besucht dort die Realschule und geht im wichtigsten Gewerbe der Stadt in Lehre: in der Textilfabrik von Moses Löw-Beer. Nathan wird in eine Tuchfabrik desselben Inhabers nach Sagan in Preußen (heute Polen) versetzt. Dann erhält er die Position des Direktors der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde. Möglicherweise lernt er hier seine zukünftige Ehefrau kennen, Ellen Hanisch, die am 16. Januar 1898 in Luckenwalde zur Welt kam. Einen Beruf erlernt Ellen nicht, arbeitet aber in Luckenwalde im Malergeschäft der Eltern.

 

Die beiden heiraten aber erst am 19. März 1932 in Berlin-Wilmersdorf, wo Ellen zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit ihrem Vater Oskar wohnt. Vier Monate später wird die NSDAP zur stärksten Partei Deutschlands gewählt. Nathan ist zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre alt, Ellen ist 34. Sie zieht zu Nathan nach Spremberg in die Georgenstraße 8. In Spremberg ist Nathan seit 1925 wohnhaft und als Fabrikdirektor bei den jüdischen Textilfabrikfirmen Schnabl und Michelsohn & Ascher tätig.

 

Die wichtigsten Zeugnisse zu Nathans Leben und seiner Zeit in Spremberg während der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stammen aus einem Briefwechsel der Brüder Kraus aus Spremberg. Ihr Vater, ein zum Protestantismus konvertierter Jude, ist Gesellschafter der Firma Michelsohn & Ascher. Nach dessen plötzlichem Tod 1937 schreibt Werner Kraus an seinen Bruder Rudolf, der gerade ins Exil gegangen ist:

 

„Es ist geplant: Bernfeld tritt als persönlich haftender Gesellschafter ein, und legt einiges Kapital mit an. […] Herr Bernfeld ist augenblicklich Leiter nach aussenhin, in Wirklichkeit nur mit mir zusammen [. …] Ich sehe die Zukunft gar nicht schwarz, ich glaube, durch gute Zusammenarbeit mit Herrn Bernfeld die Fabrik ganz gut zu leiten.“ (Quelle 1)

 

1937/38 reist Nathan im Zuge seiner Geschäfte mehrfach in die Schweiz. Auszuwandern scheint ihm dabei keine Option. Ab Januar 1938 dürfen „Arier“ in der „nichtarischen“ Tuchfabrik Michelsohn & Ascher nicht mehr einkaufen. Das würde einen Umsatzrückgang von 40% bedeuten. Dazu schreibt Werner Kraus:

 

Wir führen augenblicklich einen Kampf mit dem Vorstand der [Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Arischer Fabrikanten], um als Auslandsbetrieb anerkannt zu werden. Da Herr Bernfeld, der tschechoslowakischer Staatsangehöriger ist, als persönlich haftender Gesellschafter sozusagen als Inhaber der Firma gilt, ist es sehr leicht möglich, daß wir mit dem Antrag durchkommen. […] Herr Bernfeld hat sich schon mit seiner Botschaft in Verbindung gesetzt, die sofort beim Auswärtigen Amt wegen dieser Sache Einspruch erhoben hat, da es sich in diesem Falle um den Boykott eines tschechoslowakischen Staatsbürgers handelt. Was aber werden wird, weiß niemand. Wir wissen selber nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen, denn was sich so tut...“ (Quelle 2)

 

Einen Monat vor der Reichspogromnacht 1938 soll die Tuchfabrik in Ludwig Sinapius einen neuen Gesellschafter bekommen, Nathan soll angeblich im Laufe von fünf Jahren ausbezahlt werden. Doch in der Reichspogromnacht wird in die Wohnung der Bernfelds eingebrochen und am nächsten Tag wird Nathan und Werner Kraus der Zugang zur Fabrik verwehrt. Dazu schreibt Werner:

 

„Als wir früh in den Betrieb kamen, wurde uns der Zutritt zu demselben verweigert, von Seiten des „Obmannes“ Weiermüller und seinen Helfershelfern mit der Begründung, der Kreisleiter hätte den Betrieb beschlagnahmt und einen Treuhänder eingesetzt. So gingen wir dann wieder nach Hause, da wir ja nichts machen konnten. Als „Treuhänder“ wurde der größte Tagedieb von Spremberg, ein gewisser Rudolf Bär, Sohn des Schokoladen-Bär, eingesetzt, der sich zunächst mal eine Vergütung von RM 40.000. - auszahlen ließ, und dann lustig anfing zu liquidieren. […] Das Grundstück und die Gebäude mußten wir für RM 100.000. […] verkaufen, das Geld haben wir aber nie gesehen, es wurde angeblich zu[r] Abdeckung der Judenabgabe verwendet. […] Ich selbst wurde dann noch wegen meiner Zusammenarbeit mit Bernfeld vor das Ehren- und Disziplinargericht der DAF zitiert, die mir noch gern einen Strick gedreht hätten, indem sie mich auf einmal als Arier hinstellten, der mit Juden zusammengearbeitet und sich damit strafbar gemacht hätte. Jedoch klappte die Sache nicht so wie sich die Idioten das dachten, und ich bekam einen Freispruch wegen Mangel an Beweisen.“ (Quelle 3)

 

Nathan verliert schließlich seine tschechische Staatsangehörigkeit und wird als staatenloser Jude zur „Arbeit unter Aufsicht“ geschickt: als Lumpensortierer zu „Lumpen-Krause“ in die Kesselstraße 1 in Spremberg. Dazu Werner Kraus:

 

„[Ich sollte] zu Lumpen-Krause, Lumpen sortieren (Herr Bernfeld war schon dort) aber da hatte man Angst, daß ich mit Bernfeld staatsgefährliche Umtriebe machen könnte.“ (Quelle 4)

 

Was Nathan über die kommenden Kriegsjahre hinweg rettet, ist seine scheinbar unbeirrbare Ehefrau Ellen. Obwohl nicht-jüdische Ehepartnerinnen großem Druck ausgesetzt sind, z.B. indem sie noch weniger Lebensmittelmarken erhalten, lässt sich Ellen nicht scheiden und Nathan bleibt unter dem Schutz der Ehe mit einer sogenannten Arierin. Die beiden ziehen in eine Wohnung bei Tuchmacher Heinze in die Pfortenstraße 8. Ab Herbst 1941 ist Nathan verpflichtet den gelben „Judenstern“ an seiner Kleidung zu tragen. Der Spremberger Klaus Rebelsky erinnert sich deshalb an eine Begegnung mit Nathan Bernfeld:

 

„Wir marschierten als Pimpfe auf dem ehemaligen Bahndamm am Ende der Bergstraße und uns kam ein älterer Herr entgegen, der an seinem Anzug den gelben Stern mit der Aufschrift 'Jude' trug. Der Pimpfenführer ließ uns in 6er Reihe ausschwärmen, womit wir den ganzen Bahndamm einnahmen und der alte Mann auf den Abhang herunter treten mußte, während wir das Lied vom Judenblut, das spritzen sollte, grölten. Das war 1942.“ (Quelle 5)

 

Drei Monate vor Kriegsende steht plötzlich die Kripo Spremberg vor Bernfelds Tür und nimmt Nathan sofort mit. Er wird in das letzte Berliner Sammellager in der Schulstraße 78 verschleppt und Ellen wird zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Werner Kraus schildert die letzten Kriegstage:

 

„Er war auch noch im Lager gewesen, war dann kurz vor dem Zusammenbruch glücklicherweise durch seine Frau dort aufgefischt worden und war zu Fuss von Luckenwalde bis hier her gelaufen.“ (Quelle 6)

 

Nach Kriegsende sind nur um die 1200 Spremberger*innen in Spremberg. Alle anderen sind geflohen. Als Werner Kraus im Mai 1945 nach Spremberg kommt, sind Bernfelds daher seine einzigen Bekannten dort. Sie wohnen im letzten noch stehenden Haus am Friedrich-Engels-Platz, der Nummer 5:

 

„[Ich] wurde auch sehr nett aufgenommen, und konnte dort wohnen und Frau B[ernfeld] kochte für mich mit. Ich hatte ja einige Lebensmittel aus Schl[ottwitz] mitgebracht und ging nun erst mal auf Kartoffeltour, was auch klappte, so dass wir jeden Abend pro Mann 4 Kartoffeln mit Salz essen konnten.“ (ebenfalls Quelle 6)

 

Als Werner Kraus sein eigenes Haus in der Drebkauer Straße wieder beziehen kann, in welchem bis dahin das Krankenhaus Notunterkunft genommen hatte, bringt Nathan zur Einweihungsfeier Brot und Salz „mit dem Wunsche, daß es in meinem Hause nie ausgehen möge, was ich als den besten Wunsch und Symbol betrachte.“ (Quelle 7)

 

Ein Jahr später bekommen Nathan und Werner Kraus den „übriggebliebenen Trümmerhaufen“ (wie Werner es nennt) der Firma Michelsohn & Ascher wieder zugesprochen. Außerdem bemühen sie sich um eine Übernahme der Tuchfabrik Fr. Wilh. Heinze, deren Eigentümer als Kriegsverbrecher enteignet worden ist. Dort wird Nathan jedenfalls der erste Fabrikdirektor nach dem Krieg und ist maßgeblich am (Wieder)Aufbau der Spremberger Textilwerke beteiligt.

 

In den Folgejahren erwähnt Werner Kraus die Eheleute Bernfeld nur noch im Zusammenhang mit schönen Erlebnissen:

 

„Neujahr [werde ich] wahrscheinlich mit Bernfelds in Bad Schandau [verleben], wo wir uns austoben wollen. […] Nach meinem Geburtstag, mit nettem Essen und ausgezeichneter Stimmung war am 16. Januar Geburtstag bei Frau Bernfeld, der auch bis 5 Uhr dauerte. […] Am 17. Mai hat Herr Bernfeld 75. Geburtstag, da wird auch allerhand los sein. […] Pfingsten habe ich in Schlottwitz verlebt, zusammen mit Bernfelds, die mitgekommen waren. Wir haben sehr nette Tage verbracht, zumal wir ausgezeichnetes Wetter hatten. […] Bernfelds sind diese Woche in Schlottwitz, wo sie bei Lotte [meiner Verlobten] wohnen und acht Tage Ferien machen. Es gefällt ihnen so gut dort, daß sie nicht mehr nach Schandau woll, wo sie sonst immer waren. […] An meinem Geburtstag hatte mir Frau Bernfeld als Überraschung zwei Mann Musik bestellt, und so wurde es sehr gemütlich mit etwas Tanz usw.“ (Quelle 8)

 

Obwohl zwischen Werner und Nathan ein Altersabstand von mehr als 40 Jahren liegt, scheint sich eine tragende Freundschaft entwickelt zu haben. Auch einen Welpen der Terrierhündin der Bernfelds nimmt Werner auf.

 

Am 19. Januar 1950 stirbt Nathan morgens in seiner Wohnung. Seine Frau Ellen gibt Angina als Todesursache beim Standesamt an. Der Nachruf aus dem Textilwerk lautet etwas anders:

 

„Mitten aus einem schaffensfrohen Leben, noch auf einer Dienstfahrt begriffen, verschied am 19.1.1950 durch Herzschlag unser so sehr verehrter Herr Werksdirektor Nathan Bernfeld im Alter von fast 78 Jahren. Uns trifft dieser Verlust so schmerzlich, weil wir in ihm nicht nur einen guten Kameraden und väterlichen Freund, sondern auch einen getreuen Mitarbeiter verloren haben. Ohne jede Rücksicht auf seine eigene Person setzte er sich mit seiner ganzen Kraft und Erfahrung für den Aufbau unseres Betriebes ein. Sein Andenken werden wir stets hoch in Ehren halten. Betriebsleitung und Belegschaft der Spremberger Textilwerke, Werk I, Spremberg L.“

 

Auf dem Georgenberg wird heute auf dem Familiengrabstein der Familie Schnabl auch Nathan Bernfeld gedacht. Nach seinem Tod werden Ellen und er als Opfer des Faschismus anerkannt.

Ellen stirbt fünf Jahre später am 13. Februar 1955 im Alter von 57 Jahren im Krankenhaus von Spremberg. Ihr wird in Spremberg noch nirgends gedacht. Dabei gehört sie zu den wenigen Deutschen, die im Nationalsozialismus zu einem Menschen gehalten hat, nach dessen Leben getrachtet wurde, und die eine eigene Verfolgung in Kauf genommen hat.

Siehe auch
Quellen
Heirat Bernfeld-Hamisch (1).jpg
Nathan Bernfeld ca. 1946.jpg

Nathan Bernfeld, Datum unbekannt

Heiratseintrag von Nathan Bernfeld und Ellen Hanisch

Ellen Bernfeld ca. 1946.jpg

Ellen Bernfeld, Datum unbekannt

Bernfeld, Nathan StA Spremberg, Nr. 16_1950-1.jpg

Sterbeeintrag Nathan Bernfeld mit Originalunterschrift von Ellen Bernfeld

Bernfeld, Ellen StA Spremberg 42_1955-1.jpg

Sterbeeintrag Ellen Bernfeld

Archiv Heimatmuseum des Kreises Spremberg:

- Wolfgang Noatschk/Uwe Lehnig-Habrik/Gerd-Detlef Marsch: Hausarbeit „Erarbeitung eines Lebensbildes zur Person Nathan Bernfeld“, Welzow 1986.

 

Archiv der Ahnenforschungsdatenbank ancestry.de:

- Heiratseintrag Berlin-Wilmersdorf, Bernfeld/Hanisch, 229/1932.

 

Das Bundesarchiv:

- Deutsche Minderheiten Volkszählung 1939, VZ299565 und VZ299566.

 

Stadtarchiv Spremberg:

- Spremberger Adressbücher von 1932 und 1936.

 

Standesamt Spremberg:

- Sterbeeintrag Nathan Bernfeld, 16/1950.

- Sterbeeintrag Ellen Bernfeld, 42/1955.

 

Sekundärliteratur:

- Jan Schmidt (Hrsg.): Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 Vols): Der Deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus Und Sein Briefwechsel Im Türkischen Exil, Leiden 2014,

> Quelle 1: S. 61f.; Quelle 2: S. 175; Quelle 3: S. 1162f.; Quelle 4: S. 1181; Quelle 6: 1195; Quelle 7: S. 1343; Quelle 8: S. 1211, 1230, 1254, 1274, 1306, 1394.

- Klaus Rebelsky: Die jüdischen Mitbürger von Spremberg, in: Spremberger Kulturbund e.V./Stadtverwaltung Spremberg (Hrsg.): Heimatkalender 2002, Stadt Spremberg und Umgebung, Cottbus 2002.

> Quelle 5: S. 56.

 

Internetseiten:

- https://de.wikipedia.org/wiki/Svit%C3%A1vka (Stand 15.10.2022).

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