Ellen Elisabeth Elly Hanisch kommt am 16. Januar 1898 in Luckenwalde zur Welt. Ihre Eltern, der Friseur Otto Kanisch und Elisabeth geb. Karberg, lassen sie in der St. Johannis Kirche zu Luckenwalde evangelisch taufen und 1912 wird Ellen dort auch konfirmiert. Der Pfarrer schreibt “Elli Hanisch“ ins Kirchenbuch. Ihr Konfirmationsspruch lautet: “Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Matthäus 16,26)1
Ellen macht eine Ausbildung zur Drogistin und übernimmt nach dem Tod ihres Vaters dessen Laden am Markt 22 in Luckenwalde, eine Drogerie und Zigarrengeschäft. Vielleicht lernt sie dort Nathan Bernfeld kennen, als er eines Tages das Geschäft betritt. 1908 hat er als Direktor der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde angefangen, da war Ellen aber erst zehn Jahre alt.
24 Jahre später heiraten die beiden jedenfalls am 19. März 1932 in Berlin-Wilmersdorf, wo Ellen mittlerweile lebt.2 Vier Monate später wird die NSDAP zur stärksten Partei Deutschlands gewählt. Nathan ist zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre alt, Ellen ist 34. Sie zieht zu Nathan nach Spremberg in die Georgenstraße 8. Seit sieben Jahren ist er bereits dort Fabrikdirektor. Ab 1938 befindet sich Nathan in einem ständigen Kampf, seine Arbeitsstelle und das Ersparte von ihm und seiner Frau zu retten - jedoch völlig vergeblich.
Zur Nacht des 9. Novembers 1938 schildert Nathan Bernfeld seine Erinnerungen:
„An dem berühmten 9. November 1938 kamen nachts gegen 2 Uhr ca. 15 halbwüchsige Hitlerjungen im Alter zwischen 12-19 Jahren in meine Wohnung in der Georgenstraße und forderten mich und meine Frau, die Arierin ist, auf, sämtliche Haus-, Wohnungs- und Schrankschlüssel etc. an sie abzugeben und die Wohnung sofort zu verlassen. Auf meine Rückfrage nach einem Ausweis, auf Grund welcher Anordnung das geschehen soll, wurde mir zur Antwort gegeben „auf höheren Befehl“, die Polizei wüsste Bescheid. Auf meinen Anruf bei der Polizei, was die Maßnahme zu bedeuten hätte, antwortete mir der Beamte, dass er davon absolut nichts wüsste. Ich übergab den Telefonhörer dem Hitlerjungen und dieser sagte dem Polizeibeamten, die Aktion geschehe auf höheren Befehl. Darauf riet mir der Beamte, dem Befehl zu gehorchen. Ich ging daher mit meiner Frau zur Polizei, wo mir gesagt wurde; dass ich für diese Nacht keine Unterkunft in einem Hotel etc. bekommen könnte, weshalb meine Frau und ich die Nacht im Büro der Firma Michelsohn & Ascher verbringen wollten. Als wir im Büro ankamen, läutete das Telefon, und es wurde mir von der Polizei mitgeteilt, dass wir zurückkommen könnten, da in meinem Falle ein Versehen vorliegt, da wir Ausländer d.h. tschechische Staatsangehörige sind. Die Schlüssel wurden mir wieder übergeben.“3
Das ist erst der Beginn der Schikane. Nathan berichtet weiterhin:
„Nach einigen Monaten wurde mir das Telefon gesperrt. Ferner kam eines Mittags die Polizei vorgefahren und holte meinen Radioapparat ab. Später musste ich meinen Hund sowie meinen Kanarienvogel abgeben. Wiederum nach einigen Monaten meine sämtlichen elektrischen Geräte, sogar das Bügeleisen.“4
Zu dieser Zeit kündigt den Eheleuten Bernfeld ihre Vermieterin an, dass sie aufgrund „der Verhältnisse“, wie sie es nennt, ihre Wohnung in der Georgenstraße verlassen sollen. Die Bernfelds wollen dem nachkommen, müssen aber feststellen, dass ihnen weder in Spremberg noch in Cottbus jemand eine andere Wohnung vermieten möchte. Sie überlegen, Spremberg ganz hinter sich zu lassen, aber erst will Nathan die Geschäfte in der Tuchfabrik ordentlich abwickeln. Noch hat er Hoffnung, dass Werner und er angemessen entschädigt werden. Die Vermieterin will das Ehepaar schließlich auf die Straße setzen. Nathan richtet sich hilfesuchend an den jüdischen Rechtsanwalt Hammerschmidt in Cottbus, der ihm noch eine Schutzfrist erwirken kann. Schließlich ergibt sich als einzige mögliche Bleibe die Pfortenstraße 8 bei Tuchfabrikant Heinze (heute ist das die Nr. 13). Dazu Bernfeld:
„[Es waren] durchaus unzureichende und ungesunde Leerzimmer, ohne Küche, ohne Herd, ohne Wasserleitung etc. […] Alle in dieser Wohnung nicht unterzubringenden Möbel wurden auf einem Speicher […] eingelagert. Einige Monate später wurde die Beschlagnahme dieser Möbel ausgesprochen.“5
Ellen schreibt später:
„Wir haben nichts behalten dürfen; mein Mann bezog auch keine Lebensmittelkarte. Ich hungerte mit ihm gemeinsam.“6
Sie leiden Hunger. Ellen wird zeitweise ebenfalls zum Lumpen Sortieren oder im Gartenbau zur Arbeit verpflichtet, hat aber immer wieder große gesundheitliche Beschwerden und kann nicht arbeiten gehen. Ihr Mann wird zwischendurch mehrfach für kurze Zeit grundlos verhaftet und aus der Arbeit entlassen und dann wieder aufgenommen. Was ihn über die kommenden Kriegsjahre hinweg rettet, ist seine scheinbar unbeirrbare Ehefrau Ellen. Obwohl nicht-jüdische Ehepartnerinnen großem Druck ausgesetzt sind, zum Beispiel indem sie noch weniger Lebensmittelmarken erhalten, lässt sich Ellen nicht scheiden und Nathan bleibt unter dem Schutz der Ehe mit einer sogenannten Arierin. Später schreibt Ellen in einem Lebenslauf dazu:
„Ich hielt zu meinem Manne und bin fünf Mal zur Gestapo nach Frankfurt/Oder befohlen worden, um zu erzwingen, dass ich mich von meinem jüdischen Ehemanne scheiden lasse. Mein Mann war gut zu mir, ich hatte keine Veranlassung mich von ihm zu trennen und so habe ich von 1933 bis 1945 alle Qualen der Judenverfolgung an der Seite meines Mannes miterlebt.“7
Nathan erinnert sich, dass die Gestapo-Mitglieder zu seiner Frau sagten:
„Wenn sie auch der Jude versaut hat, wir machen wieder eine reindeutsche Frau aus ihnen.“8
Und als sie standhaft blieb, drohten sie:
„Das werden Sie büßen.“9
Am 16. Februar 1945 steht nachmittags halb vier plötzlich die Kripo Spremberg vor Bernfelds Tür in der Pfortenstraße. Sie nehmen Nathan mit und bringen ihn in das letzte Berliner Sammellager in der Schulstraße 78. Er wird verprügelt und muss mit seinen 72 Jahren nun von Fliegern beschädigte Dächer reparieren, Ziegelsteine schleppe und Abputzen. Werner Kraus, ein ehemaliger Geschäftspartner von Nathan schildert die letzten Kriegstage:
„[Bernfeld] war auch noch im Lager gewesen, war dann kurz vor dem Zusammenbruch glücklicherweise durch seine Frau dort aufgefischt worden und war zu Fuss von Luckenwalde bis hier her gelaufen.“10
Nach Kriegsende befinden sich nur nur ca. 1200 Spremberger*innen in Spremberg. Alle anderen sind geflohen. Auch Werner hat die letzten Kriegsjahre auf dem Land ausgeharrt. Als er im Mai 1945 nach Spremberg kommt, sind Bernfelds seine einzigen Bekannten dort. Ihnen wurde Wohnung im letzten noch stehenden Haus am Friedrich-Engels-Platz zugewiesen, der Nummer 5:
„[Ich] wurde auch sehr nett aufgenommen, und konnte dort wohnen und Frau B[ernfeld] kochte für mich mit. Ich hatte ja einige Lebensmittel aus Schl[ottwitz] mitgebracht und ging nun erst mal auf Kartoffeltour, was auch klappte, so dass wir jeden Abend pro Mann 4 Kartoffeln mit Salz essen konnten.“11
Nach Kriegsende wird Nathan der erste wieder eingesetzte Fabrikdirektor und ist maßgeblich am (Wieder)Aufbau der Spremberger Textilwerke beteiligt. Ellen schreibt:
„Als anerkannter Fachmann setzte er sich mit all seinen ihm verbliebenen Kräften für den Wiederaufbau der zertrümmerten Tuchstadt Spremberg ein.“12
Aus der Armut schaffen sie es trotzdem nicht wieder heraus. Ihr eingezogenes Vermögen bekommen sie nicht zurückerstattet. Sie beantragen als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt zu werden. Zusammenfassend schreibt Ellen dazu:
„Wir beide sind ständig seit 1933 von der Polizei, insbesondere von der Gestapo Frankfurt/Oder schwer gedemütigt worden. Unaufhörliche Durchsuchungen, wiederholte Verhaftungen, völlig verarmt, von allen gemieden, verbrachten wir 12 schwere Jahre.“13
Es bürgen für sie der Bürgermeister der Stadt Spremberg, Richard Buder, Frau Maria Thümmel geb. Nakoinz, Dr. Werner Joel und Berthold Gäßner, Werner Kraus, Alwin Hartmann und Willi Barwisch. Sie alle sagen aus, dass das Paar viel ertragen musste und Ellen dabei immer zu Nathan hielt.
In den Nachkriegsjahren erwähnt Werner die Eheleute Bernfeld nur noch im Zusammenhang mit schönen Erlebnissen:
„Neujahr [werde ich] wahrscheinlich mit Bernfelds in Bad Schandau [verleben], wo wir uns austoben wollen. [...] Nach meinem Geburtstag, mit nettem Essen und ausgezeichneter Stimmung war am 16. Januar Geburtstag bei Frau Bernfeld, der auch bis 5 Uhr dauerte. [...] Pfingsten habe ich in Schlottwitz verlebt, zusammen mit Bernfelds, die mitgekommen waren. Wir haben sehr nette Tage verbracht, zumal wir ausgezeichnetes Wetter hatten. [...] Bernfelds sind diese Woche in Schlottwitz, wo sie bei Lotte [meiner Verlobten] wohnen und acht Tage Ferien machen. Es gefällt ihnen so gut dort, daß sie nicht mehr nach Schandau wollen, wo sie sonst immer waren. [...] An meinem Geburtstag hatte mir Frau Bernfeld als Überraschung zwei Mann Musik bestellt, und so wurde es sehr gemütlich mit etwas Tanz usw.“14
Am 19. Januar 1950 stirbt Nathan morgens in der gemeinsamen Wohnung an einem Herzschlag. Ellen stirbt fünf Jahre später am 13. Februar 1955 im Alter von 57 Jahren im Krankenhaus von Spremberg. Von den Strapazen des Krieges hat sie sich nie ganz erholt und den Tod ihres Mannes nicht überwunden. Sie wurde alkoholkrank und fiel damit scheinbar unangenehm in der Öffentlichkeit in Spremberg auf. Dafür hat sie die Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes in der DDR sogar gemaßregelt, da sie sich moralisch nicht im Sinne einer Widerstandskämpferin des Faschismus verhalte.
Während sich an Nathan Bernfeld viele Spremberger erinnern und sein Name zum Gedenken auf dem Familiengrabstein der Schnabls auf dem Georgenberg eingraviert wurde, steht Ellen Bernfeld sehr im Hintergrund. Dabei gehört sie zu den wenigen Deutschen, die im Nationalsozialismus zu einem Menschen gehalten hat, nach dessen Leben getrachtet wurde, und die eine eigene Verfolgung in Kauf nahm.
16.01.1898 | Geburt – in Luckenwalde |
11.04.1898 | Taufe in St. Johannis, Luckenwalde |
Frühjahr 1912 | Konfirmation in St. Johannis, Luckenwalde |
ca. 1914 | Ausbildung zur Drogistin |
19.03.1932 | Eheschließung – mit Nathan Bernfeld in Berlin |
1932 | Zuzug – nach Spremberg |
1935-1945 | wird 5 Mal zur Gestapo Frankfurt/Oder beordert & gedrängt sich scheiden zu lassen |
09.11.1938 | Reichspogromnacht: Einbruch in ihre Wohnung |
1942 | Wohnungsverlust, Umzug innerhalb Sprembergs, Beschlagnahmung ihres Vermögens |
16.02.1945 | Verhaftung des Ehemannes |
19.01.1950 | Todestag – des Ehemannes |
13.02.1955 | Todestag – im Krankenhaus Spremberg |
05.10.2023 | Stolpersteinverlegung – in der Pfortenstraße 13 |
Bernfeld, Nathan | Ehemann |
Kraus, Werner | guter Bekannter |
Georgenhöhe | Wohnort |
Pfortenstraße | Wohnort, STOLPERSTEIN |
letzter Wohnort |
16.01.1898 | Geburt – in Luckenwalde |
11.04.1898 | Taufe in St. Johannis, Luckenwalde |
Frühjahr 1912 | Konfirmation in St. Johannis, Luckenwalde |
ca. 1914 | Ausbildung zur Drogistin |
19.03.1932 | Eheschließung – mit Nathan Bernfeld in Berlin |
1932 | Zuzug – nach Spremberg |
1935-1945 | wird 5 Mal zur Gestapo Frankfurt/Oder beordert & gedrängt sich scheiden zu lassen |
09.11.1938 | Reichspogromnacht: Einbruch in ihre Wohnung |
1942 | Wohnungsverlust, Umzug innerhalb Sprembergs, Beschlagnahmung ihres Vermögens |
16.02.1945 | Verhaftung des Ehemannes |
19.01.1950 | Todestag – des Ehemannes |
13.02.1955 | Todestag – im Krankenhaus Spremberg |
05.10.2023 | Stolpersteinverlegung – in der Pfortenstraße 13 |
Ellen Elisabeth Elly Hanisch kommt am 16. Januar 1898 in Luckenwalde zur Welt. Ihre Eltern, der Friseur Otto Kanisch und Elisabeth geb. Karberg, lassen sie in der St. Johannis Kirche zu Luckenwalde evangelisch taufen und 1912 wird Ellen dort auch konfirmiert. Der Pfarrer schreibt “Elli Hanisch“ ins Kirchenbuch. Ihr Konfirmationsspruch lautet: “Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Matthäus 16,26)1
Ellen macht eine Ausbildung zur Drogistin und übernimmt nach dem Tod ihres Vaters dessen Laden am Markt 22 in Luckenwalde, eine Drogerie und Zigarrengeschäft. Vielleicht lernt sie dort Nathan Bernfeld kennen, als er eines Tages das Geschäft betritt. 1908 hat er als Direktor der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde angefangen, da war Ellen aber erst zehn Jahre alt.
24 Jahre später heiraten die beiden jedenfalls am 19. März 1932 in Berlin-Wilmersdorf, wo Ellen mittlerweile lebt.2 Vier Monate später wird die NSDAP zur stärksten Partei Deutschlands gewählt. Nathan ist zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre alt, Ellen ist 34. Sie zieht zu Nathan nach Spremberg in die Georgenstraße 8. Seit sieben Jahren ist er bereits dort Fabrikdirektor. Ab 1938 befindet sich Nathan in einem ständigen Kampf, seine Arbeitsstelle und das Ersparte von ihm und seiner Frau zu retten - jedoch völlig vergeblich.
Zur Nacht des 9. Novembers 1938 schildert Nathan Bernfeld seine Erinnerungen:
„An dem berühmten 9. November 1938 kamen nachts gegen 2 Uhr ca. 15 halbwüchsige Hitlerjungen im Alter zwischen 12-19 Jahren in meine Wohnung in der Georgenstraße und forderten mich und meine Frau, die Arierin ist, auf, sämtliche Haus-, Wohnungs- und Schrankschlüssel etc. an sie abzugeben und die Wohnung sofort zu verlassen. Auf meine Rückfrage nach einem Ausweis, auf Grund welcher Anordnung das geschehen soll, wurde mir zur Antwort gegeben „auf höheren Befehl“, die Polizei wüsste Bescheid. Auf meinen Anruf bei der Polizei, was die Maßnahme zu bedeuten hätte, antwortete mir der Beamte, dass er davon absolut nichts wüsste. Ich übergab den Telefonhörer dem Hitlerjungen und dieser sagte dem Polizeibeamten, die Aktion geschehe auf höheren Befehl. Darauf riet mir der Beamte, dem Befehl zu gehorchen. Ich ging daher mit meiner Frau zur Polizei, wo mir gesagt wurde; dass ich für diese Nacht keine Unterkunft in einem Hotel etc. bekommen könnte, weshalb meine Frau und ich die Nacht im Büro der Firma Michelsohn & Ascher verbringen wollten. Als wir im Büro ankamen, läutete das Telefon, und es wurde mir von der Polizei mitgeteilt, dass wir zurückkommen könnten, da in meinem Falle ein Versehen vorliegt, da wir Ausländer d.h. tschechische Staatsangehörige sind. Die Schlüssel wurden mir wieder übergeben.“3
Das ist erst der Beginn der Schikane. Nathan berichtet weiterhin:
„Nach einigen Monaten wurde mir das Telefon gesperrt. Ferner kam eines Mittags die Polizei vorgefahren und holte meinen Radioapparat ab. Später musste ich meinen Hund sowie meinen Kanarienvogel abgeben. Wiederum nach einigen Monaten meine sämtlichen elektrischen Geräte, sogar das Bügeleisen.“4
Zu dieser Zeit kündigt den Eheleuten Bernfeld ihre Vermieterin an, dass sie aufgrund „der Verhältnisse“, wie sie es nennt, ihre Wohnung in der Georgenstraße verlassen sollen. Die Bernfelds wollen dem nachkommen, müssen aber feststellen, dass ihnen weder in Spremberg noch in Cottbus jemand eine andere Wohnung vermieten möchte. Sie überlegen, Spremberg ganz hinter sich zu lassen, aber erst will Nathan die Geschäfte in der Tuchfabrik ordentlich abwickeln. Noch hat er Hoffnung, dass Werner und er angemessen entschädigt werden. Die Vermieterin will das Ehepaar schließlich auf die Straße setzen. Nathan richtet sich hilfesuchend an den jüdischen Rechtsanwalt Hammerschmidt in Cottbus, der ihm noch eine Schutzfrist erwirken kann. Schließlich ergibt sich als einzige mögliche Bleibe die Pfortenstraße 8 bei Tuchfabrikant Heinze (heute ist das die Nr. 13). Dazu Bernfeld:
„[Es waren] durchaus unzureichende und ungesunde Leerzimmer, ohne Küche, ohne Herd, ohne Wasserleitung etc. […] Alle in dieser Wohnung nicht unterzubringenden Möbel wurden auf einem Speicher […] eingelagert. Einige Monate später wurde die Beschlagnahme dieser Möbel ausgesprochen.“5
Ellen schreibt später:
„Wir haben nichts behalten dürfen; mein Mann bezog auch keine Lebensmittelkarte. Ich hungerte mit ihm gemeinsam.“6
Sie leiden Hunger. Ellen wird zeitweise ebenfalls zum Lumpen Sortieren oder im Gartenbau zur Arbeit verpflichtet, hat aber immer wieder große gesundheitliche Beschwerden und kann nicht arbeiten gehen. Ihr Mann wird zwischendurch mehrfach für kurze Zeit grundlos verhaftet und aus der Arbeit entlassen und dann wieder aufgenommen. Was ihn über die kommenden Kriegsjahre hinweg rettet, ist seine scheinbar unbeirrbare Ehefrau Ellen. Obwohl nicht-jüdische Ehepartnerinnen großem Druck ausgesetzt sind, zum Beispiel indem sie noch weniger Lebensmittelmarken erhalten, lässt sich Ellen nicht scheiden und Nathan bleibt unter dem Schutz der Ehe mit einer sogenannten Arierin. Später schreibt Ellen in einem Lebenslauf dazu:
„Ich hielt zu meinem Manne und bin fünf Mal zur Gestapo nach Frankfurt/Oder befohlen worden, um zu erzwingen, dass ich mich von meinem jüdischen Ehemanne scheiden lasse. Mein Mann war gut zu mir, ich hatte keine Veranlassung mich von ihm zu trennen und so habe ich von 1933 bis 1945 alle Qualen der Judenverfolgung an der Seite meines Mannes miterlebt.“7
Nathan erinnert sich, dass die Gestapo-Mitglieder zu seiner Frau sagten:
„Wenn sie auch der Jude versaut hat, wir machen wieder eine reindeutsche Frau aus ihnen.“8
Und als sie standhaft blieb, drohten sie:
„Das werden Sie büßen.“9
Am 16. Februar 1945 steht nachmittags halb vier plötzlich die Kripo Spremberg vor Bernfelds Tür in der Pfortenstraße. Sie nehmen Nathan mit und bringen ihn in das letzte Berliner Sammellager in der Schulstraße 78. Er wird verprügelt und muss mit seinen 72 Jahren nun von Fliegern beschädigte Dächer reparieren, Ziegelsteine schleppe und Abputzen. Werner Kraus, ein ehemaliger Geschäftspartner von Nathan schildert die letzten Kriegstage:
„[Bernfeld] war auch noch im Lager gewesen, war dann kurz vor dem Zusammenbruch glücklicherweise durch seine Frau dort aufgefischt worden und war zu Fuss von Luckenwalde bis hier her gelaufen.“10
Nach Kriegsende befinden sich nur nur ca. 1200 Spremberger*innen in Spremberg. Alle anderen sind geflohen. Auch Werner hat die letzten Kriegsjahre auf dem Land ausgeharrt. Als er im Mai 1945 nach Spremberg kommt, sind Bernfelds seine einzigen Bekannten dort. Ihnen wurde Wohnung im letzten noch stehenden Haus am Friedrich-Engels-Platz zugewiesen, der Nummer 5:
„[Ich] wurde auch sehr nett aufgenommen, und konnte dort wohnen und Frau B[ernfeld] kochte für mich mit. Ich hatte ja einige Lebensmittel aus Schl[ottwitz] mitgebracht und ging nun erst mal auf Kartoffeltour, was auch klappte, so dass wir jeden Abend pro Mann 4 Kartoffeln mit Salz essen konnten.“11
Nach Kriegsende wird Nathan der erste wieder eingesetzte Fabrikdirektor und ist maßgeblich am (Wieder)Aufbau der Spremberger Textilwerke beteiligt. Ellen schreibt:
„Als anerkannter Fachmann setzte er sich mit all seinen ihm verbliebenen Kräften für den Wiederaufbau der zertrümmerten Tuchstadt Spremberg ein.“12
Aus der Armut schaffen sie es trotzdem nicht wieder heraus. Ihr eingezogenes Vermögen bekommen sie nicht zurückerstattet. Sie beantragen als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt zu werden. Zusammenfassend schreibt Ellen dazu:
„Wir beide sind ständig seit 1933 von der Polizei, insbesondere von der Gestapo Frankfurt/Oder schwer gedemütigt worden. Unaufhörliche Durchsuchungen, wiederholte Verhaftungen, völlig verarmt, von allen gemieden, verbrachten wir 12 schwere Jahre.“13
Es bürgen für sie der Bürgermeister der Stadt Spremberg, Richard Buder, Frau Maria Thümmel geb. Nakoinz, Dr. Werner Joel und Berthold Gäßner, Werner Kraus, Alwin Hartmann und Willi Barwisch. Sie alle sagen aus, dass das Paar viel ertragen musste und Ellen dabei immer zu Nathan hielt.
In den Nachkriegsjahren erwähnt Werner die Eheleute Bernfeld nur noch im Zusammenhang mit schönen Erlebnissen:
„Neujahr [werde ich] wahrscheinlich mit Bernfelds in Bad Schandau [verleben], wo wir uns austoben wollen. [...] Nach meinem Geburtstag, mit nettem Essen und ausgezeichneter Stimmung war am 16. Januar Geburtstag bei Frau Bernfeld, der auch bis 5 Uhr dauerte. [...] Pfingsten habe ich in Schlottwitz verlebt, zusammen mit Bernfelds, die mitgekommen waren. Wir haben sehr nette Tage verbracht, zumal wir ausgezeichnetes Wetter hatten. [...] Bernfelds sind diese Woche in Schlottwitz, wo sie bei Lotte [meiner Verlobten] wohnen und acht Tage Ferien machen. Es gefällt ihnen so gut dort, daß sie nicht mehr nach Schandau wollen, wo sie sonst immer waren. [...] An meinem Geburtstag hatte mir Frau Bernfeld als Überraschung zwei Mann Musik bestellt, und so wurde es sehr gemütlich mit etwas Tanz usw.“14
Am 19. Januar 1950 stirbt Nathan morgens in der gemeinsamen Wohnung an einem Herzschlag. Ellen stirbt fünf Jahre später am 13. Februar 1955 im Alter von 57 Jahren im Krankenhaus von Spremberg. Von den Strapazen des Krieges hat sie sich nie ganz erholt und den Tod ihres Mannes nicht überwunden. Sie wurde alkoholkrank und fiel damit scheinbar unangenehm in der Öffentlichkeit in Spremberg auf. Dafür hat sie die Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes in der DDR sogar gemaßregelt, da sie sich moralisch nicht im Sinne einer Widerstandskämpferin des Faschismus verhalte.
Während sich an Nathan Bernfeld viele Spremberger erinnern und sein Name zum Gedenken auf dem Familiengrabstein der Schnabls auf dem Georgenberg eingraviert wurde, steht Ellen Bernfeld sehr im Hintergrund. Dabei gehört sie zu den wenigen Deutschen, die im Nationalsozialismus zu einem Menschen gehalten hat, nach dessen Leben getrachtet wurde, und die eine eigene Verfolgung in Kauf nahm.
Bernfeld, Nathan | Ehemann |
Kraus, Werner | guter Bekannter |
Georgenhöhe | Wohnort |
Pfortenstraße | Wohnort, STOLPERSTEIN |
letzter Wohnort |
Archion:
Brandenburgisches Landeshauptstaatsarchiv:
Archiv Heimatmuseum des Kreises Spremberg:
Archiv der Ahnenforschungsdatenbank ancestry.de:
Das Bundesarchiv:
Stadtarchiv Spremberg:
Standesamt Spremberg:
Sekundärliteratur: