Am 9. Juli 1894 kommt in Leobschütz in Schlesien ein kleines Mädchen zur Welt: Friederike Elfriede Goldmann. Sie wächst mit zwei älteren und zwei jüngeren Geschwistern in einer jüdischen Familie auf. Aus einem Brief ihrer Schwester wissen wir, dass sie in der Familie „Frieda“ gerufen wird. Nach der Schule macht sie eine Ausbildung zur Putzmacherin (heute Modistin), doch wird sie nie in ihrem Beruf tätig.
Frieda ist fast 20 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg beginnt. Später wird sie einmal auflisten, wie „Deutschland treu“ ihre Familie ist, um ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk zu beweisen. Da schreibt Frieda: „Mein Großvater Simon Goldmann war 1870/71 in Frankfurt für Deutschland im Krieg. Mein Vater Siegfried Goldmann hat im Weltkrieg die Verwundeten vom Bahnhof mit dem eigenen Gespann geholt und in die Lazarette gefahren und bekam dafür den schlesischen Adlerorden. Mein Bruder Oskar Goldmann ist im Weltkriege mit 24 Jahren in Frankreich gefallen wie auch drei meiner Vettern. Ich selbst habe 1921 zur Abstimmung in Leobschütz deutsch gestimmt, als durch Volksentscheid die Zugehörigkeit von Leobschütz zu Deutschland oder Polen bestimmt werden sollte. Meine Tochter war damals ein Jahr und das zweite unterwegs und trotz dem ich krank war, bin ich von Spremberg nach Leobschütz gefahren.“ (Das Zitat wurde für bessere Verständlichkeit angepasst.)
In der Zeit des Ersten Weltkrieges lernt Frieda auch Bruno Rulla kennen. Bruno ist in (Alt-)Haidemühl, Drebkau und Weißwasser aufgewachsen. Als 17-Jähriger hat er seine Elektrolehre abgebrochen und sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet. In einem Liebesbrief schreibt Frieda nach dem Krieg an Bruno: „Mein liebes Männe! […] Weißt Du mein Lieber, ich wünsche mir, daß unsere gegenseitige Liebe für immer so wie sie jetzt ist, bestehen bliebe. Und hoffe es auch bestimmt. [...] Schlimm kann es ja nicht werden, die Angst hat sich bei mir schon etwas gelegt; denn Du hast mir ja versprochen bei mir zu bleiben.“ Frieda erwähnt auch Zweifel und Vorbehalte, die ihre Nachbarin und ihre Familie gegenüber Bruno hegen. Doch ein halbes Jahr später – am 22. Dezember 1919 – heiraten die beiden in Leobschütz. Da ist Frieda auch schon im sechsten Monat schwanger. Frieda und Bruno ziehen nach (Bad) Muskau, wo ihre beiden Kinder, Lieselore und Hans-Joachim, zur Welt kommen. 1924 zieht die Familie nach Trattendorf in die Kraftwrkstraße 36, denn Bruno hat Arbeit im Kraftwerk gefunden. Frieda betreibt ein Radiogeschäft und eine Zeitzeugin erinnert sich, dass später über Frieda immer erzählt wurde, sie habe aus ihrem Küchenfenster selbstgemachte Bonbons an Kinder verkauft.
Als 1932/33 die nationalsozialistische Ideologie in Deutschland bereits weit verbreitet ist, will Bruno seine sogenannte Mischehe mit einer Jüdin nicht mehr führen. Er sucht einen Rechtsanwalt auf, um sich scheiden zu lassen. Dieser erklärt ihm allerdings, dass die Tatsache, dass Frieda Jüdin ist, nicht als Scheidungsgrund ausreiche. Es beginnt ein jahrelanger Ehestreit und Scheidungsprozess. Frieda wirft ihrem Ehemann eine Affäre vor, die von mehreren Zeugen gestützt werden kann. Bruno sieht in seiner Ehefrau den Grund für das Scheitern seiner Karriere. Tatsächlich wird ihm 1935 im Kraftwerk gekündigt. Bruno wird der Sabotage verdächtigt. Er sei dazu fähig, weil er mit einer Jüdin verheiratet ist. Gleichzeitig wird erhält er keine Erlaubnis, sich mit einem eigenen Geschäft in Spremberg selbständig zu machen.
In einem Brief schreibt Friedas jüngste Schwester Ella zu dieser Zeit an Frieda: „Liebe Frieda! […] Du sollst Dir aber sofort einen tüchtigen jüdischen Anwalt nehmen, der weiß alles genau. […] Wenn Bruno Meister wäre, hätte er die Genehmigung bekommen, ein Geschäft auf zu machen, denn er war Frontsoldat und er ist doch deutsch. Selbst die Juden, die Frontsoldaten waren, haben doch die Geschäfte und die Rechtsanwälte sind doch auch zugelassen. Das Judentum ist nur Ausrede. […] Bruno wird wegen der Klage wegen dem Judentum abgewiesen werden, aber was wird dann werden? Er wird Dich schikanieren, aber wird Dir kein Geld geben.“ Friedas Schwester Ella wird sechs Jahre später im Ghetto Kaunas im Alter von 43 Jahren von den Nationalsozialisten ermordet.
Frieda findet einen tüchtigen jüdischen Anwalt: Hermann Hammerschmidt aus Cottbus. Fünf Jahre kämpft er für ihre Rechte. 1944 wird auch er ermordet. Ein STOLPERSTEIN erinnert in Cottbus in der Bahnhofstraße 62 vor seiner ehemaligen Kanzlei an ihn. 1936 wird Brunos Scheidungsklage abgewiesen. Er muss die Prozesskosten tragen. Zuletzt hatte er versucht durch ein Schreiben an den Reichsjustizminister noch Unterstützung zu finden. Doch schließlich hat sogar ein Mitglied der SA in Spremberg gegen Bruno Rulla vor Gericht ausgesagt. Trotzdem dürfen Bruno und Frieda nun in getrennte Haushalte ziehen.
Frieda zieht mit den Kindern in die Wilhelmstraße 9. Eine Zeitzeugin erinnert sich, dass sich dort 13 Familien ein Klosett auf dem Hof teilen mussten. Das Radiogeschäft wird Frieda schließlich im Zuge der sogenannten Arisierung des Einzelhandels weggenommen und an Bruno übergeben. Da sie nun keinen eigenen Verdienst mehr hat, klagt sie Unterhaltszahlungen von Bruno ein, die sie auch bekommt. Dabei muss sie aber die Kosten für ihren Rechtsanwalt Hammerschmidt selbst tragen. In einem Breif an ihn, entschuldigt sie sich für die verspätete Ratenzahlung: „Es geht auf den Winter zu, brauche Kohle und Kartoffeln. Habe aber in Cottbus Winterhilfe beantragt.“
Im Januar 1938 muss Frieda wegen einer Operation mehrere Wochen ins Cottbuser Krankenhaus. Mit Bruno vereinbart sie deshalb, dass ihr Sohn Hans erst mal bei ihm wohnen solle. Auch Lieselore wird ausziehen, und zwar in eine eigene Wohnung. Ihre Arbeitgeberin drängt dazu, nicht länger in Gemeinschaft mit ihrer jüdischen Mutter zu leben. Besuche und Einladungen Friedas an ihre Kinder versucht Bruno zu unterbinden, aber erfolglos. Vor Gericht sagt er aus, dass manchmal Lieselore bei ihm erscheine und zu Hans sage: “Du sollst zur Mutti kommen, es gibt Pudding.“
Frieda erkundigt sich 1938 beim Palästina-Amt über ihre Möglichkeiten zur Ausreise aus Deutschland. Vom Amt wird ihr mitgeteilt, dass eine Emigration nach Palästina illegal wäre, aber von den deutschen Behörden geduldet werde. Das ist für Frieda keine Option. Trotzdem vermacht sie ihren Kindern schriftlich ihren gesamten Besitz, „falls ich eines Tages mal abgeholt werden sollte“, wie sie vor Gericht aussagt. Bruno aber nutzt diese Informationen, um erneut eine Scheidungsklage einzureichen. Er begründet diesen zweiten Versuch eben damit, dass Frieda sich nicht um die Kinder kümmere und auswandern wolle, also an einer Ehe nicht mehr interessiert sei. Frieda, mittlerweile völlig verarmt, kann sich ihren Rechtsanwalt nicht mehr leisten. Dieser beantragt Armenrecht für sie, damit er ihr zugeordnet werden kann und nimmt die Gegenklage auf, bevor er sicher sein kann, dass er für seinen Dienst bezahlt wird. In der Gegenklage führen sie auf, dass Bruno das Briefgeheimnis verletzt habe, indem er ihre Post vom Palästina-Amt öffnete, ein Verhältnis mit einer neuen Frau habe und dass sie mehrere Schriftstücke vorlegen könne, in denen er seinen Hass auf sie, seine Ehefrau, als Jüdin kundtut. Ihr Rechtsanwalt argumentiert daraufhin, dass Bruno in seinem Judenhass eigentlich froh sein müsse, dass die Kinder dem Einfluss der Mutter entzogen seien oder dass sie auswandern wolle. Seine Klage sei also inkonsequent.
Das Urteil vom Cottbuser Gericht wird am 29. März 1940 verkündet. Darin steht unter anderem zu den judenfeindlichen Bemerkungen: “Diese Bemerkugnen zeigen, dass nicht nur bei dem Kläger jde eheliche Gesinnung erloschen ist, dass er sogar bewusst darauf ausgegangen ist, die Beklagte, die immerhin noch seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder war, auf das Tiefste zu kränken.“ Rechtsanwalt Hammerschmidt schreibt daraufhin an Frieda: „In Ihrer Ehescheidungssache hat das Gericht die Ehe […] geschieden und Ihren Ehemann für den allein schuldigen Teil erklärt und ihm die Kosten auferlegt. Das Gericht hat allein schon die Postabschnitte mit seinen beleidigenden Bemerkungen als genügenden Grund zum Schuldausspruch angesehen […].“ Doch Frieda erreicht dieses Schreiben nicht mehr. Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer Zelle im Rathaus von Spremberg. Es ist das dritte Mal, dass sie aus fadenscheinigen Gründen verhaftet wurde. Dieses Mal soll eine Nachbarin, Frau Kühn, Frieda einen Brief eines Soldaten in Spremberg gebracht, und Frieda soll daraufhin den Soldaten zu einem Rendezvous gebeten haben. Wie solche Infos an die Polizei gekommen sind, ist fragwürdig und unklar. Die Ermittlungsakten, die in den Gerichtsakten noch erwähnt werden, sind verschollen. Doch der Soldat, Frau Kühn und Elfriede Rulla werden alle mit dem Vorwurf der versuchten Rassenschande verhaftet. Wie es mit Frau Kühn und dem Soldaten weiter ging, ist bisher unbekannt.
Die Rathauszelle, in der Frieda inhaftiert wird, bestand laut einer Zeitzeugin aus nur einem Raum: darin der Schreibtisch für den Wachtmann und die Zelle. Nach 20 Tagen Haft nimmt sich Frieda dort das Leben. Sie ist 45 Jahre alt. In ihrem Sterbeeintrag wird vermerkt: „Selbstmord durch Erhängen“ in den frühen Morgenstunden „zwischen 5 bis 7 Uhr“. Es ist der 10. April 1940 – der Geburtstag von Friedas Mann Bruno. Was tatsächlich in der Zelle vonstatten ging, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Einen Tag später wird das Scheidungsurteil an Frieda zugestellt. Durch ihren Tod wird es als wirkungslos beschlossen. Am 13. April 1940 wird Frieda auf dem Waldfriedhof beerdigt.
Am 5. Oktober 2022 wurde in Spremberg durch den Künstler Gunter Demnig der erste STOLPERSTEIN verlegt: für Elfriede Rulla. An der Verlegung nahmen ca. 150 Personen teil, darunter viele Schülerinnen und Schüler.
Am 17. September 2024 wurden für die Geschwister Lieselore und Hans Rulla in Spremberg STOLPERSTEINE neben dem Stein ihrer Mutter verlegt.
09.07.1894 | Geburt – in Leobschütz, Schlesien |
1913 | Putzmacherlehre |
22.12.1919 | Eheschließung – mit Bruno Rulla in Leobschütz |
1920 | Umzug nach Muskau |
21.03.1920 | Geburt – von Tochter Lieselore |
18.09.1921 | Geburt – von Sohn Hans-Joachim |
1924 | Zuzug – nach Spremberg, Eröffnung Radiogeschäft |
ab 1933 | mehrere Scheidungsversuche des Mannes, angeblich aus "Rassegründen" |
1938 | Erkundigung über Ausreise nach Palästina, Besitz an Kinder überschrieben |
20.03.1940 | 3. Verhaftung in Spremberg |
10.04.1940 | Todestag – in einer Zelle im Rathaus Spremberg |
13.04.1940 | Beisetzung auf dem Waldfriedhof |
04.10.2022 | Stolpersteinverlegung – in der Geschwister-Scholl-Straße Ecke Karl-Marx-Straße |
Rulla, Lieselore | Tochter |
Rulla, Hans-Joachim | Sohn |
Geschwister-Scholl-Straße 9 und 10 | letzter Wohnort, STOLPERSTEIN |
09.07.1894 | Geburt – in Leobschütz, Schlesien |
1913 | Putzmacherlehre |
22.12.1919 | Eheschließung – mit Bruno Rulla in Leobschütz |
1920 | Umzug nach Muskau |
21.03.1920 | Geburt – von Tochter Lieselore |
18.09.1921 | Geburt – von Sohn Hans-Joachim |
1924 | Zuzug – nach Spremberg, Eröffnung Radiogeschäft |
ab 1933 | mehrere Scheidungsversuche des Mannes, angeblich aus "Rassegründen" |
1938 | Erkundigung über Ausreise nach Palästina, Besitz an Kinder überschrieben |
20.03.1940 | 3. Verhaftung in Spremberg |
10.04.1940 | Todestag – in einer Zelle im Rathaus Spremberg |
13.04.1940 | Beisetzung auf dem Waldfriedhof |
04.10.2022 | Stolpersteinverlegung – in der Geschwister-Scholl-Straße Ecke Karl-Marx-Straße |
Am 9. Juli 1894 kommt in Leobschütz in Schlesien ein kleines Mädchen zur Welt: Friederike Elfriede Goldmann. Sie wächst mit zwei älteren und zwei jüngeren Geschwistern in einer jüdischen Familie auf. Aus einem Brief ihrer Schwester wissen wir, dass sie in der Familie „Frieda“ gerufen wird. Nach der Schule macht sie eine Ausbildung zur Putzmacherin (heute Modistin), doch wird sie nie in ihrem Beruf tätig.
Frieda ist fast 20 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg beginnt. Später wird sie einmal auflisten, wie „Deutschland treu“ ihre Familie ist, um ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk zu beweisen. Da schreibt Frieda: „Mein Großvater Simon Goldmann war 1870/71 in Frankfurt für Deutschland im Krieg. Mein Vater Siegfried Goldmann hat im Weltkrieg die Verwundeten vom Bahnhof mit dem eigenen Gespann geholt und in die Lazarette gefahren und bekam dafür den schlesischen Adlerorden. Mein Bruder Oskar Goldmann ist im Weltkriege mit 24 Jahren in Frankreich gefallen wie auch drei meiner Vettern. Ich selbst habe 1921 zur Abstimmung in Leobschütz deutsch gestimmt, als durch Volksentscheid die Zugehörigkeit von Leobschütz zu Deutschland oder Polen bestimmt werden sollte. Meine Tochter war damals ein Jahr und das zweite unterwegs und trotz dem ich krank war, bin ich von Spremberg nach Leobschütz gefahren.“ (Das Zitat wurde für bessere Verständlichkeit angepasst.)
In der Zeit des Ersten Weltkrieges lernt Frieda auch Bruno Rulla kennen. Bruno ist in (Alt-)Haidemühl, Drebkau und Weißwasser aufgewachsen. Als 17-Jähriger hat er seine Elektrolehre abgebrochen und sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet. In einem Liebesbrief schreibt Frieda nach dem Krieg an Bruno: „Mein liebes Männe! […] Weißt Du mein Lieber, ich wünsche mir, daß unsere gegenseitige Liebe für immer so wie sie jetzt ist, bestehen bliebe. Und hoffe es auch bestimmt. [...] Schlimm kann es ja nicht werden, die Angst hat sich bei mir schon etwas gelegt; denn Du hast mir ja versprochen bei mir zu bleiben.“ Frieda erwähnt auch Zweifel und Vorbehalte, die ihre Nachbarin und ihre Familie gegenüber Bruno hegen. Doch ein halbes Jahr später – am 22. Dezember 1919 – heiraten die beiden in Leobschütz. Da ist Frieda auch schon im sechsten Monat schwanger. Frieda und Bruno ziehen nach (Bad) Muskau, wo ihre beiden Kinder, Lieselore und Hans-Joachim, zur Welt kommen. 1924 zieht die Familie nach Trattendorf in die Kraftwrkstraße 36, denn Bruno hat Arbeit im Kraftwerk gefunden. Frieda betreibt ein Radiogeschäft und eine Zeitzeugin erinnert sich, dass später über Frieda immer erzählt wurde, sie habe aus ihrem Küchenfenster selbstgemachte Bonbons an Kinder verkauft.
Als 1932/33 die nationalsozialistische Ideologie in Deutschland bereits weit verbreitet ist, will Bruno seine sogenannte Mischehe mit einer Jüdin nicht mehr führen. Er sucht einen Rechtsanwalt auf, um sich scheiden zu lassen. Dieser erklärt ihm allerdings, dass die Tatsache, dass Frieda Jüdin ist, nicht als Scheidungsgrund ausreiche. Es beginnt ein jahrelanger Ehestreit und Scheidungsprozess. Frieda wirft ihrem Ehemann eine Affäre vor, die von mehreren Zeugen gestützt werden kann. Bruno sieht in seiner Ehefrau den Grund für das Scheitern seiner Karriere. Tatsächlich wird ihm 1935 im Kraftwerk gekündigt. Bruno wird der Sabotage verdächtigt. Er sei dazu fähig, weil er mit einer Jüdin verheiratet ist. Gleichzeitig wird erhält er keine Erlaubnis, sich mit einem eigenen Geschäft in Spremberg selbständig zu machen.
In einem Brief schreibt Friedas jüngste Schwester Ella zu dieser Zeit an Frieda: „Liebe Frieda! […] Du sollst Dir aber sofort einen tüchtigen jüdischen Anwalt nehmen, der weiß alles genau. […] Wenn Bruno Meister wäre, hätte er die Genehmigung bekommen, ein Geschäft auf zu machen, denn er war Frontsoldat und er ist doch deutsch. Selbst die Juden, die Frontsoldaten waren, haben doch die Geschäfte und die Rechtsanwälte sind doch auch zugelassen. Das Judentum ist nur Ausrede. […] Bruno wird wegen der Klage wegen dem Judentum abgewiesen werden, aber was wird dann werden? Er wird Dich schikanieren, aber wird Dir kein Geld geben.“ Friedas Schwester Ella wird sechs Jahre später im Ghetto Kaunas im Alter von 43 Jahren von den Nationalsozialisten ermordet.
Frieda findet einen tüchtigen jüdischen Anwalt: Hermann Hammerschmidt aus Cottbus. Fünf Jahre kämpft er für ihre Rechte. 1944 wird auch er ermordet. Ein STOLPERSTEIN erinnert in Cottbus in der Bahnhofstraße 62 vor seiner ehemaligen Kanzlei an ihn. 1936 wird Brunos Scheidungsklage abgewiesen. Er muss die Prozesskosten tragen. Zuletzt hatte er versucht durch ein Schreiben an den Reichsjustizminister noch Unterstützung zu finden. Doch schließlich hat sogar ein Mitglied der SA in Spremberg gegen Bruno Rulla vor Gericht ausgesagt. Trotzdem dürfen Bruno und Frieda nun in getrennte Haushalte ziehen.
Frieda zieht mit den Kindern in die Wilhelmstraße 9. Eine Zeitzeugin erinnert sich, dass sich dort 13 Familien ein Klosett auf dem Hof teilen mussten. Das Radiogeschäft wird Frieda schließlich im Zuge der sogenannten Arisierung des Einzelhandels weggenommen und an Bruno übergeben. Da sie nun keinen eigenen Verdienst mehr hat, klagt sie Unterhaltszahlungen von Bruno ein, die sie auch bekommt. Dabei muss sie aber die Kosten für ihren Rechtsanwalt Hammerschmidt selbst tragen. In einem Breif an ihn, entschuldigt sie sich für die verspätete Ratenzahlung: „Es geht auf den Winter zu, brauche Kohle und Kartoffeln. Habe aber in Cottbus Winterhilfe beantragt.“
Im Januar 1938 muss Frieda wegen einer Operation mehrere Wochen ins Cottbuser Krankenhaus. Mit Bruno vereinbart sie deshalb, dass ihr Sohn Hans erst mal bei ihm wohnen solle. Auch Lieselore wird ausziehen, und zwar in eine eigene Wohnung. Ihre Arbeitgeberin drängt dazu, nicht länger in Gemeinschaft mit ihrer jüdischen Mutter zu leben. Besuche und Einladungen Friedas an ihre Kinder versucht Bruno zu unterbinden, aber erfolglos. Vor Gericht sagt er aus, dass manchmal Lieselore bei ihm erscheine und zu Hans sage: “Du sollst zur Mutti kommen, es gibt Pudding.“
Frieda erkundigt sich 1938 beim Palästina-Amt über ihre Möglichkeiten zur Ausreise aus Deutschland. Vom Amt wird ihr mitgeteilt, dass eine Emigration nach Palästina illegal wäre, aber von den deutschen Behörden geduldet werde. Das ist für Frieda keine Option. Trotzdem vermacht sie ihren Kindern schriftlich ihren gesamten Besitz, „falls ich eines Tages mal abgeholt werden sollte“, wie sie vor Gericht aussagt. Bruno aber nutzt diese Informationen, um erneut eine Scheidungsklage einzureichen. Er begründet diesen zweiten Versuch eben damit, dass Frieda sich nicht um die Kinder kümmere und auswandern wolle, also an einer Ehe nicht mehr interessiert sei. Frieda, mittlerweile völlig verarmt, kann sich ihren Rechtsanwalt nicht mehr leisten. Dieser beantragt Armenrecht für sie, damit er ihr zugeordnet werden kann und nimmt die Gegenklage auf, bevor er sicher sein kann, dass er für seinen Dienst bezahlt wird. In der Gegenklage führen sie auf, dass Bruno das Briefgeheimnis verletzt habe, indem er ihre Post vom Palästina-Amt öffnete, ein Verhältnis mit einer neuen Frau habe und dass sie mehrere Schriftstücke vorlegen könne, in denen er seinen Hass auf sie, seine Ehefrau, als Jüdin kundtut. Ihr Rechtsanwalt argumentiert daraufhin, dass Bruno in seinem Judenhass eigentlich froh sein müsse, dass die Kinder dem Einfluss der Mutter entzogen seien oder dass sie auswandern wolle. Seine Klage sei also inkonsequent.
Das Urteil vom Cottbuser Gericht wird am 29. März 1940 verkündet. Darin steht unter anderem zu den judenfeindlichen Bemerkungen: “Diese Bemerkugnen zeigen, dass nicht nur bei dem Kläger jde eheliche Gesinnung erloschen ist, dass er sogar bewusst darauf ausgegangen ist, die Beklagte, die immerhin noch seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder war, auf das Tiefste zu kränken.“ Rechtsanwalt Hammerschmidt schreibt daraufhin an Frieda: „In Ihrer Ehescheidungssache hat das Gericht die Ehe […] geschieden und Ihren Ehemann für den allein schuldigen Teil erklärt und ihm die Kosten auferlegt. Das Gericht hat allein schon die Postabschnitte mit seinen beleidigenden Bemerkungen als genügenden Grund zum Schuldausspruch angesehen […].“ Doch Frieda erreicht dieses Schreiben nicht mehr. Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer Zelle im Rathaus von Spremberg. Es ist das dritte Mal, dass sie aus fadenscheinigen Gründen verhaftet wurde. Dieses Mal soll eine Nachbarin, Frau Kühn, Frieda einen Brief eines Soldaten in Spremberg gebracht, und Frieda soll daraufhin den Soldaten zu einem Rendezvous gebeten haben. Wie solche Infos an die Polizei gekommen sind, ist fragwürdig und unklar. Die Ermittlungsakten, die in den Gerichtsakten noch erwähnt werden, sind verschollen. Doch der Soldat, Frau Kühn und Elfriede Rulla werden alle mit dem Vorwurf der versuchten Rassenschande verhaftet. Wie es mit Frau Kühn und dem Soldaten weiter ging, ist bisher unbekannt.
Die Rathauszelle, in der Frieda inhaftiert wird, bestand laut einer Zeitzeugin aus nur einem Raum: darin der Schreibtisch für den Wachtmann und die Zelle. Nach 20 Tagen Haft nimmt sich Frieda dort das Leben. Sie ist 45 Jahre alt. In ihrem Sterbeeintrag wird vermerkt: „Selbstmord durch Erhängen“ in den frühen Morgenstunden „zwischen 5 bis 7 Uhr“. Es ist der 10. April 1940 – der Geburtstag von Friedas Mann Bruno. Was tatsächlich in der Zelle vonstatten ging, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Einen Tag später wird das Scheidungsurteil an Frieda zugestellt. Durch ihren Tod wird es als wirkungslos beschlossen. Am 13. April 1940 wird Frieda auf dem Waldfriedhof beerdigt.
Am 5. Oktober 2022 wurde in Spremberg durch den Künstler Gunter Demnig der erste STOLPERSTEIN verlegt: für Elfriede Rulla. An der Verlegung nahmen ca. 150 Personen teil, darunter viele Schülerinnen und Schüler.
Am 17. September 2024 wurden für die Geschwister Lieselore und Hans Rulla in Spremberg STOLPERSTEINE neben dem Stein ihrer Mutter verlegt.
Rulla, Lieselore | Tochter |
Rulla, Hans-Joachim | Sohn |
Geschwister-Scholl-Straße 9 und 10 | letzter Wohnort, STOLPERSTEIN |
Zeitzeugenaussage:
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Stadtarchiv Spremberg:
Archiv der Kreuzkirche Spremberg:
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